An die Politik:

Wir fordern Aufklärung!

Zusammenfassung

Das Wissen über die Krankheit Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS) ist gering – in der Bevölkerung, bei vielen Ärztinnen und Ärzten sowie bei den Leistungsträgern des Sozialrechts. Dies hat dramatische Folgen für die hohe Zahl von Betroffenen – beispielsweise durch Fehldiagnosen, schlechte medizinische und pflegerische Versorgung und zu wenig Geld für Forschung, um ein besseres Verständnis für die Erkrankung zu erhalten und so wirksame Therapien entwickeln zu können.

startaMEvolution fordert die Bundesregierung auf, umgehend eine gezielte, multimediale und langfristig angelegte Kampagne zur Aufklärung über das Krankheitsbild aufzulegen. Dadurch soll das Wissen in der Bevölkerung zu ME/CFS erhöht, Stigmatisierung abgebaut und Prävention sowie Versorgung und Forschung ermöglicht bzw. ausgebaut werden, um eine umfassende Verbesserung der Lage der Betroffenen zu erreichen.

 

Ausgangslage

ME/CFS ist zwar schon seit Jahrzehnten von der Weltgesundheitsorganisation anerkannt und als neurologische Krankheit klassifiziert. Die Ursachen und Folgen der Krankheit sind jedoch durch Bagatellisierung und Stigmatisierung bislang nur unzureichend erforscht und publik gemacht worden.

Im Jahr 2021 wurden rund 500.000 Fälle in Deutschland erfasst (Kassenärztliche Bundesvereinigung 2023). Da virale Infektionen als ein häufiger Auslöser von ME/CFS gelten und viele an Long-/Post-COVID erkrankte Patient*innen schließlich die Diagnose ME/CFS erhalten, gehen Schätzungen von 600.000–800.000 Betroffenen für das Jahr 2023 aus (Scheibenbogen 2023). Durch die Verstetigung der Pandemie sowie die weiterhin bestehenden anderen Auslöser der Krankheit wird die Zahl der Erkrankten voraussichtlich auch in Zukunft steigen.

ME/CFS hat schwerwiegende Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen und führt oft zur Schwerbehinderung. Viele Betroffene fallen aus dem Arbeitsleben, Schwerstbetroffene sind komplett bettlägerig und benötigen umfassende Versorgung und Pflege. Aufgrund der Unkenntnis über die Erkrankung auch bei medizinischem Personal und in Einrichtungen des Gesundheitswesens sowie bei sozialrechtlichen Behörden sind die Patient*innen jedoch weitgehend unterversorgt. Wegen jahrzehntelanger Versäumnisse in der Finanzierung der Forschung gibt es bislang keine kurativen Therapien. Bestehende medikamentöse Behandlungsansätze können bisher lediglich einzelne Symptome lindern.

Zudem führt die Unwissenheit über die Erkrankung oft zu Fehldiagnosen, was den Gesundheitszustand langfristig weiter verschlechtern kann: Die Post-exertionelle Malaise (PEM) als Kardinalmerkmal von ME/CFS führt dazu, dass sich bei Überschreitung der limitierten, sehr individuellen Energiegrenzen der Betroffenen die körperlichen Symptome zeitverzögert, aber häufig massiv und oft tage- bzw. wochenlang oder sogar dauerhaft verschlechtern. Zu den weiteren Symptomen zählen u. a. Fatigue, Schmerzen und kognitive Beeinträchtigungen, Herzrasen sowie Grippesymptome, die bezüglich ihres zeitlichen Auftretens sowie ihrer Schwere Schwankungen unterliegen. Die Krankheit hat dadurch weitreichende Folgen für die Betroffenen und ihre Familien, aber auch belegbare volkswirtschaftliche Auswirkungen aufgrund des Ausscheidens einer Vielzahl dringend benötigter Fachkräfte aus dem Berufsleben.

 

Forderung einer Aufklärungskampagne

ME/CFS ist eine schwerwiegende Erkrankung, die jede und jeden treffen kann. Um insbesondere die Bürger*innen und medizinisches Personal zu erreichen und über die Symptome und Folgen der Erkrankung aufzuklären, ist eine langfristig und breit angelegte Kampagne daher jetzt dringend notwendig. Ziel muss es sein, das Problembewusstsein zu erhöhen und das Krankheitsbild sowie das Leitmerkmal PEM insgesamt bekannter zu machen. Die Bürger*innen sollten sensibilisiert und Wissen über Früherkennung und das Krankheitsmanagement (Pacing) bereitgestellt werden, da frühzeitiges Pacing schwere Verläufe verhindern kann.

Die Ausgestaltung der Kampagne sollte der zuständigen Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bzw. dem angekündigten Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BPAM) obliegen. Zur Umsetzung sind die entsprechenden medizinischen und fachpolitischen Expert*innen sowie Patient*innenorganisationen einzubeziehen.

Die Kampagne sollte – in Anlehnung an die HIV/AIDS-Aufklärungskampagne mit Beginn in den 1980er Jahren – über mehrere Jahre bis Jahrzehnte angelegt sein. Die Mediennutzung zur Umsetzung sollte multimedial sein und sowohl klassische Massenmedien, soziale Medien und Internetplattformen, als auch Broschüren, Flyer und Außenwerbung umfassen. Die Informationen sollen ansprechend, sachgerecht, qualitativ hochwertig und auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand aufbereitet sein. In den ersten zwei Jahren sehen wir einen zweistelligen Millionenbetrag als notwendig an. Die Kampagne sollte in Deutschland Umsetzung finden; eine internationale Ausweitung bzw. Kooperationen wären möglich.

Zur Umsetzung erachten wir es als sinnvoll, die jeweiligen Zielgruppen unterschiedlich anzusprechen. So sollte bei der Information der breiten Bevölkerung die Aufklärung zu möglichen Auslösern, zu PEM und zu Pacing als Krankheitsmanagement im Vordergrund stehen. Zur Ansprache bieten sich je nach Altersgruppe unterschiedliche Medien an. Ein Kampagnenportal analog zur Long-COVID-Website ist für ausführlichere Informationen sinnvoll (Bundesministerium für Gesundheit 2024). Zu Ärztinnen und Ärzten besteht ein besonderes gesamtgesellschaftliches Vertrauensverhältnis, daher kann die Bereitstellung weiterführender Informationen über die Praxen bedeutsam sein (Jedamzik 2018).

Das Gesundheitspersonal, wie Ärztinnen und Ärzte und Pflegefachkräfte, sollte das Krankheitsbild erkennen, diagnostizieren, symptomorientiert behandeln und mögliche Thera-pieansätze mit den Patient*innen angehen können. Denkbar ist hier eine gezielte Ansprache und Informationsbereitstellung über Weiterbildungsangebote.

 

Auch die Mitarbeiter*innen und Gutachter*innen bei den Sozialleistungsträgern wie den Trägern der Sozialhilfe oder der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherungen sollten gezielt angesprochen werden (Deutsche Gesellschaft für ME/CFS, Long COVID Deutschland 2022). Hier sollten die Folgen des Krankheitsbildes und die daraus entstehenden Einschränkungen und möglichen notwendigen Anpassungen für das Schul- und Berufsleben ebenso deutlich werden wie die oft notwendigen Unterstützungsmaßnahmen in der medizinischen und pflegerischen Versorgung. Auch finanzielle Unterstützungs- und Sozial-leistungen müssen Anerkennung finden.

 

Um Weiterbildungsangebote zu schaffen bzw. zu erweitern, sollten auch die Ärzte- und Pflegekammern einbezogen werden. Zudem ist es zielführend, dass post-infektiöse Krank-heitsbilder auch in den medizinischen Studiengängen der Universitäten gelehrt werden. Hier ist eine Übernahme der Lehrinhalte in die Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkataloge Medizin und Zahnmedizin sinnvoll (Deutsche Gesellschaft für ME/CFS, Long COVID Deutschland 2022).

 

 

Quellen

Bundesministerium für Gesundheit 2024: BMG-Initiative LONG COVID, https://www.bmg-longcovid.de/, abgerufen am 20.05.2024

Deutsche Gesellschaft für ME/CFS, Long COVID Deutschland 2022: Nationaler Aktionsplan für ME/CFS und das Post-COVID-Syndrom, Stand Februar 2022, https://www.mecfs.de/wp-content/uploads/2022/02/Aktionsplan.pdf, abgerufen am 04.06.2024

Jedamzik, Siegfried 2018: Aufklärungskampagnen, in: Bei bester Gesundheit? Deutschlands E-Health im Check-up, Nr. 109, S. 33-37, https://www.hss.de/publikationen/aufklaerungskampagnen-pub58/, abgerufen am 20.05.2024

Kassenärztliche Bundesvereinigung 2023: Stellungnahme der KBV zum Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion „ME/CFS-Betroffenen sowie deren Angehörigen helfen – Für eine bessere Gesundheits- sowie Therapieversorgung, Aufklärung und Anerkennung“, https://www.kbv.de/media/sp/2023-04-14_KBV_Stellungnahme_AfG_Anhoerung_MECFS.pdf, abgerufen am 30.05.2024

Scheibenbogen, Carmen 2023: Die Folgen der Pandemie: Post-COVID und ME/CFS, Leopoldina-Vorlesung 12.07.2023, Min: 37:30, https://www.youtube.com/watch?v=KHgd6R3NR9M, abgerufen am 30.05.2024

 



Zitate